Bis jetzt stand uns in diesem Jahr Ganesha, der Hindernisse entfernt, und Lakshmi, die lehrt zu teilen was uns geschenkt wird, bei Seite. In diesem Monat beschäftigen wir uns mit einer weiteren Gottheit, welche etwas andere Aspekte von unserem Leben repräsentiert: Gott Shiva. Er hat abhängig davon an welcher hinduistischen Tradition man sich orientiert, verschiedene Bedeutungen. Der Trimurti zu Folge ist Shiva der “Zerstörer des Bösen und der Transformierende” und zusammen mit Brahma, dem Erschaffer, und Vishnu, dem Erhalter, bilden sie die hinduistische Dreieinigkeit. Andere Strömungen im Hinduismus geben dem Shiva viele weitere Bedeutungen, was dazu führt, dass er tatsächlich in bis zu 108 Formen (und mit 108 Namen) dargestellt wird. All diese Formen gehen jedoch zu Shiva in seiner höchsten Form zurück, welche eigentlich formlos, unlimitiert und transzendiert ist. Als das formlose, höchste Sein, wird er oft in seiner anikonischen Form des Lingams angepriesen.
Was hat nun der Shiva als Höchstes Sein und Shiva in seinen verschiedenen Formen mit uns und unserer Yoga Praxis zu tun? Ausgehend von dem Verständnis, dass Yoga nicht nur ein körperliches Übungssystem ist, dass uns stärker, fitter und flexibler macht, sondern dass es vielmehr ein praktisches System ist welches zur Selbsterkenntnis führen kann, könnte man sagen, dass Shiva in seiner formlosen Form als Höchstes Sein das Ziel von Yoga symbolisiert.
Eine Art dieses Ziel von Yoga zu verstehen ist, dass es darum geht die höchste Wahrheit zu finden und sich damit zu verbinden. Eine grundlegende Annahme der Yoga Philosophie ist, dass diese Wahrheit niemals in der Welt der materiellen Umstände (welche den Körper und den Geist miteinbeziehen) gefunden werden kann, weil diese fortwährender Veränderung unterworfen ist. Wenn wir ganz ehrlich auf unser eigenes Leben blicken, sehen wir vielleicht, dass das Leben selten einem geraden Weg folgt, dass oft Dinge nicht nach unserem Plan passieren und dass wir und Alles um uns herum in einem ständigen Zustand der Veränderung ist. Tatsächlich steht niemals wirklich irgendetwas still. Daher ist es eigentlich zwecklos zu versuchen sich auf äußere Umstände zu verlassen, dass diese uns Zufriedenheit, Glücklichkeit und Frieden geben. So lernen wir also im Yoga eine andere Quelle für unsere Stabilität zu suchen. Wir beginnen nach innen zu schauen und mit einiger Zeit sehen wir vielleicht, dass tief in uns ein Kern von Wahrheit liegt und obwohl diese Wahrheit selber keine Form hat, sondern einfach nur ist, manifestiert sie sich doch in verschiedenen Erscheinungen in der externen Welt.
Deshalb kann es nun so sein, dass Shiva gleichzeitig das Höchste und formlose Sein ist und somit die Höchste Wahrheit repräsentiert, und in vielen verschiedenen Formen erscheinen kann, welche einen Teil dieser unendlichen, höchsten Wahrheit reflektiert. Somit verkörpert Shiva zum Beispiel auch was man sonst als gegensätzliche Qualitäten betrachten würde. Jedoch sind sie in ihm vereint und zeigen somit, dass nichts wirklich einfach alleine existieren kann – man kann das Eine nicht ohne dem Anderen haben. So repräsentiert Shiva zum Beispiel den Zerstörer und den Wohlwollenden, oder den Asketen und den Haushalter. Als Rudra, “Der Wilde” oder „der furchterregende Gott” ist er als ein schreckliches Wesen mit großer Zerstörungskraft und Willem bekannt, während Shiva gleichzeitig auch glückverheißend oder gutartig bedeutet und somit seine sanften Qualitäten veranschaulicht.
Als der erste Yogi, “Der große Yogi”, Mahayogi, repräsentiert Shiva die absolute Absorbierung in dem Zustand des Eins-sein. Durch seine Meditation ist er komplett in seinem wahren Selbst verankert. Ein Erlebnis, das dann eintreten mag, wenn man sich komplett von seinen weltlichen Aufgaben zurückzieht und tief in seine spirituelle Praxis taucht. Zur gleichen Zeit, war Shiva als Ehemann von Parvati und Vater von Ganesha und Kartikeya aber auch ein Familienmensch und Haushalter und hat am ganz normalen Alltag teilgenommen.
Diese beiden Beispiele von Shiva’s Darstellungen zeigen, dass das Leben kaum einfach nur schwarz oder weiß, entweder/oder, ist. Die menschliche Existenz ist ein komplexes Netz verknüpft aus gegensätzlichen Qualitäten und Ideen die alle zur gleichen Zeit ko-existieren können. Vielleicht bekommen wir genau dann, wenn wir annehmen können, dass nichts in dieser Welt entweder gut oder schlecht, richtig oder falsch, hell oder dunkel ist, einen kleinen Blick darauf was es heißen kann, das Ziel von Yoga, Einheit, zu realisieren. Wenn wir beginnen zu akzeptieren, dass zwei gegensätzliche Attribute das ein und das selbe Ding ausmachen und am Ende immer zu der einen formlosen Quelle hinführen, sind wir nicht länger zwischen zwei Polen hin und hergerissen und mögen dadurch mehr Gelassenheit, Frieden und Ausgeglichenheit des Geistes finden.
von Carina Hilmar