Shakti – Kraft der Kreation

Der Impuls und der Antrieb, Yoga zu üben, entstammt der weiblichen Kraft der Shakti. Doch jahrhundertelang wurde Yoga fast ausschließlich von Männern praktiziert. In den Yoga Sutren, die vor rund 2000 Jahren von dem Gelehrten Patanjali verfasst wurden, wird empfohlen, dass der praktizierende Yogi sich während der Praxis von „Feuer, Frauen etc. fernhalten“ solle. Unter Yoga wurde damals vor allem die Praxis der Meditation verstanden; Kontrolle über Körper und Geist, um ein höheres Bewusstsein zu erlangen. Frauen war es meist nicht gestattet Yoga zu praktizieren. Noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als indische Yogis wie K. Pattabhi Jois oder B. K. S. Iyengar, die heute im Westen verbreitete Asana-fokussierte Yogapraxis gelehrt haben, war Yoga vorrangig eine Domäne von und für Männer. Nur langsam begannen Frauen in Indien Yoga zu üben und teilweise sogar zu unterrichten. Erst als es ab den 1950er Jahren mit Indra Devi in den USA zu einem echten Yoga-Boom kam, waren es vor allem Frauen, die Yoga praktizierten.

Shakti – die Kraft des Weiblichen.

Shakti ist Sanskrit und bedeutet so viel wie „Energie“. Im Yoga verkörpert Shakti eine intensive, urweibliche, archaische, tiefrote Kraft: Vermögen, Können und Macht. Während der Praxis können wir diese Energie als aufsteigende Kundalini erfahren, die tief unten im Wurzelchakra (Beckenboden)erweckt wird und sich bis hoch ins Scheitelchakra windet. Im spirituellen Kontext ist Shakti die große „Sie“, die sich in einer Vielfalt von Göttinnen personifiziert. Und so zeigen sich in einigen Manifestationen der Shakti mehr die mütterlichen und beschützenden, bei anderen mehr die aggressiven und bedrohlichen, Aspekte.

Shaktis männlicher Gegenpart, der große „Er“, ist Shiva. Während die weibliche Göttin Shakti für das Dynamische, Aktive und Schöpferische steht, ist Shiva – der männliche Gott – das passive, statische, ruhende und kontemplative Prinzip. Im Gegensatz zu der von der westlichen Moderne geprägte Sichtweise auf das Weibliche, das als passiv und empfunden konstruiert wird, ist Shakti eine durchsetzungsfähige und ausdrucksstarke Bewusstseinsmacht. Dass es heute explizite, für Männer konzipierte, Yogaklassen gibt, in denen kraftvolle Asanas im Vordergrund stehen, scheint demselben modern westlichen Konstrukt von Mann = stark, Frau = schwach zu entspringen.

In der traditionellen chinesischen Medizin wird das Männliche, der Tag, der Sonnenschein, die Hitze und Bewegung mit Yang assoziiert. Das Weibliche, die Nacht, der Regen, die Kälte und die Ruhe besitzen Yin-Charakter. Das weibliche und das männliche Prinzip sind zwei, die sich einander wechselseitig beeinflussen und vervollständigen; die eine Seite bildet stets die wichtigste Grundbedingung für die andere Seite. Yin und Yang stecken in jedem und jeder von uns. Und so ist Shiva zwar „der Lenker aller Energien“; aus sich selbst heraus kann das männliche Prinzip aber nichts erschaffen – dazu braucht es die Kraft der Shakti. Denn für die konkrete Manifestation dieser Energien spielt das weibliche Prinzip die aktive Rolle. Jede Veränderung, die uns und allen Lebewesen widerfährt, hat demnach ihren Ursprung in der transformierenden, schöpferischen Kraft der Shakti.

Kali Yuga. Der Verliererwurf.

Nach altindischer Überlieferung degeneriert das Zeitalter nach dem Erscheinen eines lehrenden Buddhas schrittweise. Es werden vier Weltalter (Yuga) genannt, die von abnehmendem Alter, sowie von einem generell gesellschaftlichem Verfall gekennzeichnet sind. Analog dazu sind sie nach dem abnehmenden Wert beim Würfelspiel benannt: das goldene Satya oder Kṛta-Yuga („Vierer“) ist der Siegerwurf. Dieses wird gefolgt vom silbernen Treta-Yuga („Dreier“) und dem kupfernen Dwapara-Yuga („Zweier“). Heute befindet sich die Welt demnach im eisernen Kali-Yuga, dem „Einer“, dem Verliererwurf. Ein Zeitalter, indem Materialismus dominiert. Wo die als passiv und weiblich konstruierte Natur als Objekt betrachtet wird, das sich fast unbegrenzt ausbeuten lässt. Wo Hass, Gier und Verwirrung, Krieg und Leid dominieren.

Mit Shakti in ein höheres Yuga

Die hinduistische Tradition erwähnt drei Hauptenergien der Shakti-Kraft.

Kriya-Shakti ist die Kraft der Manifestation, des Handelns und der Kreativität. Sie begegnet uns immer dort, wo sich schlummernde Energien in konkretes Tun transformieren.

Ichchha-Shakti äußert sich in unserem Drang nach Selbst-Ausdruck und ist die Kraft der Intention. Wenn wir uns vor der Yoga-Praxis eine Intention setzen und uns diese immer wieder bewusst machen, dann kann sich die Kraft der Ichchha-Shakti entfalten.

Jnana-Shakti schließlich ist die Kraft, die unser Interesse an spirituellen Themen weckt, die sich in uns regt, wenn wir uns mit essenziellen Lebensfragen auseinandersetzen. Sie kann große transformative Veränderungen hervorbringen, die notwendig sind, um das menschliche mit dem höheren Bewusstsein in Verbindung zu bringen.

Was nach dem Ende des Kali Yuga folgt, ist umstritten. Nach hinduistischer Überlieferung kann unmittelbar danach ein neues goldenes Zeitalter erscheinen und Unordnung und Leid augenblicklich durch eine göttliche Ordnung ersetzen. Oder aber es erfolgt ein langsamer Aufstieg durch ein neues Dwapara und Treta Yuga bis hin zu einem neuen Satya Yuga. Was auch immer kommen mag: Die heutige Welt kann nicht länger auf die Freundlichkeit, Toleranz und nährende Pflege der weiblichen Shakti-Kraft verzichten. Wir können bereits heute versuchen, ein kleines goldenes Zeitalter zu schaffen, indem wir freundlich und mitfühlend mit uns und anderen umgehen.

Vom Patriarchat in die Balance

Wir tragen also alles Potential bereits in uns. Haben die Chance, die Würfel neu zu werfen. Die Chance, die einseitig patriarchal dominierte Gesellschaftsordnung zu transformieren und wieder in die Balance zu führen. Ökofeministische Theorien und Bewegungen wollen genau das tun. Sie versuchen, die Herrschaft über Frauen durch das Patriarchat und den Raubbau an der Erde, sowie deren Auswirkungen auf Gesellschaft, Körper und Natur zu überwinden. Sie fordern ein Ende der Entwertung und Aneignung der Arbeit der Fürsorge für das menschliche Leben; einen sozialen Wandel. Umfassende soziale Veränderungen, die auf der Anerkennung von Interdependenzen zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur beruhen.

Ökofeminismus ist sowohl ein theoretischer und politischer Vorschlag als auch eine soziale Bewegung. Die indigene feministische Bewegung „Mujeres Creando“ aus Bolivien zum Beispiel betrachtet „Männer“ und „Frauen“ nicht als Gegenpole. Vielmehr sehen sie beide als gemeinschaftliches politisches Paar. Ihr Ziel ist es, dass beide Teile dieses Paares politische Macht gemeinsam ausüben, Gesellschaft gemeinschaftlich organisieren und daran teilhaben. Sie streben damit eine gemeinsame politische Vertretung von Frauen und Männern in Gemeinschaften an. Gemeinschaften, in denen Frauen als vollwertige Mitglieder in einem egalitären Verhältnis zu Männern teilhaben und nicht nur als Zugabe der Männer gesehen werden. Basierend auf dem indigenen Prinzip der humanen Ko-Existenz streben sie einen gesellschaftlichen Raum an, in dem es möglich ist, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen symmetrisch zu gestalten. Ein Raum, in dem eine Balance zwischen den beiden Polen Mann und Frau möglich wird.

Und die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardem zeigt, wie die transformative Kraft der Shakti auch politische Entscheidungen transformieren kann. Anders als in Österreich, wo der 12-Stunden-Tag wieder Einzug genommen hat, hat sie in der Diskussion, um steigende Arbeitslosigkeit und ein besseres Verhältnis zwischen Arbeit und Privatleben nach der Covid19-Pandemie, die 4-Tage Woche und andere flexible Arbeitszeitmodelle ins Spiel gebracht.

Wir haben die Chance, die Würfel neu zu werfen

Die Kunst besteht also vermutlich darin, das fortwährende Spiel zwischen den beiden Prinzipien zu verstehen und auszubalancieren. Das Potential der Shakti steckt in jeder Frau – und in jedem Mann. Ela Thole zeigt in ihrem Buch “Die göttliche Shakti – Die Kraft des Weiblichen im Yoga” auf, wie wir diese uns allen innewohnenden Kraft erfahren können. Wir haben es in der Hand die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen Shakti ihr Potential entfalten kann. Dazu braucht es die grundlegende Bereitschaft, das Wirken der Shakti ohne Widerstand in sich geschehen zu lassen. Eine konzentrierte Sadhana (spirituelle Praxis) kann helfen, Vertrauen und Offenheit gegenüber der ureigenen – manchmal bedrohlich wirkenden – weiblichen Kraft aufzubauen, uns dieser Kraft bewusst zu werden und damit unsere ureigene Kraft und das darin schlummernde Potential in die Welt zu bringen. Mit der Hoffnung, dass das Kali Yuga in ein mitfühlendes und freundliches Zeitalter hinübergehen wird.

 

geschrieben von unserer Lehrerin Daniela Hinderer

 

Ela Thole: Die göttliche Shakti – Die Kraft des Weiblichen im Yoga. Theseus Verlag, 2015

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